kpw-photo: Sozialdokumentarische Photographie
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Eine Telefonzelle verschwindet - ein Anlass für Denkübungen
Ende 2011 in Göttingen: Eine Telefonzelle und ein Briefkasten (mit den Schränken für die im Bereich auszutragende Post), beider noch im einheitlichen Gelb der früheren Deutschen Post.
Die Telefonzelle in ihrer Spätform mit einem Kunststoffgehäuse
Die Ausstattung war noch modernisiert worden: die Telefonkarte konnte verwendet werden, und der Anschluß ermöglichte auch internationale Gespäche.
Anfang 2013: die Telefonzelle ist ersatzlos verschwunden, der Briefkasten als Kettenglied eines viel älteren Telekommunikationssystems bleibt am Platz
 
 
 
Sozialdokumentarische Notiz (Stand 11. Januar 2016) - Kommentare willkommen
 
Keine Angst, dies ist nicht die mißglückte Bewerbung für den Wettbewerb "Becher für Telefonzellen gesucht", sondern nur der Versuch, mit einer kleinen Serie über ca. 14 Monate einen Aspekt der Veränderung der Telekommunikationsinfrastruktur ins Bild zu setzen, welche mit einer Veränderung des Telekommunikationsverhaltens seit Anfang der 1990er Jahre zusammenhängt. Das technische Mittel dieser Veränderung, das Mobiltelefon ("Handy") ist hier nicht im Bild, ließe sich aber mit dem gestellten Bild eines Mobiltelefonnutzers hinzufügen, der wie zufällig auf dem nun geräumten Platz der Telefonzelle stünde.
 

Diese kleine Serie führe ich hier an, um zu erörtern, wie (an einem einfachen Beispiel) eine gesellschaftliche Veränderung durch eine Folge von Bildern der sie begleitenden technischen Artefakte aufbereitet werden kann. Die Grundidee ist, mittels einer Aufnahme einen bestimmten Ausschnitt des zeitlichen Ablaufes festzuhalten, um dann mehrere solcher thematisch zentrierter Aufnahmen zu einem künstlichen Miniablauf zusammenzustellen, der so in der realen Entwicklung nicht vorgekommen ist. Die Auswahl des Motives ist eine Art der Selektion, die Herauslösung einzelner Momente aus dem zeitlichen Kontinuum eine andere Art der Selektion; beider Selektionen werden dann in einer Serie zusammengeführt.

 

Die hier verfolgte These geht davon aus, dass eine geeignete Serienkonstruktion aus sichtbaren Elementen, die zu einer weithin als Prozeß unsichtbaren gesellschaftlichen Entwicklung gehören, es erleichtern kann, eben diese Entwicklung deutlich zu machen. Diese Entwicklung zu erkennen (oder zu bestreiten), bleibt die Leistung des Betrachters. (Dies verweist darauf, dass ein Konzept sozialdokumentarischer Fotografie ohne Annahmen für die Rezipienten kaum vorstellbar ist.)

 
Das einzelne Bild ist durch die doppelte Selektion de-kontextualisiert ("aus dem Zusammenhang gerissen") und soll nun mit anderen Bildern in der Serien neu kontextualisiert werden. Was kann hierbei durch eine Reihung von Bildern erreicht werden, was muss eine verbale Erläuterung leisten? Und wie muß der Erfahrungshintergrund des Bildbetrachters berücksichtigt werden? Die hier präsentierte Bildserie transportiert für ältere Betrachter etwas anderes als für die Smartphone-Natives.
 
In der langen Phase der Geschichte der Telefonie, in der neben Firmen und Behörden nur wenige private Haushalten über einen eigenen Telefonanschluss verfügten, boten öffentlich zugängliche Anschlüsse für die große Mehrheit der Bevölkerung (etwa in der Bundesrepublik) den wichtigsten Zugang zum Telefonnetz. Neben den Telefonkabinen in den Postämtern (Telefonie gehörte zu den Dienstleistungen der staatlichen Post) gab es Telefonhäuschen, wie die außerhalb von Gebäuden aufgestellten Telefonzellen genannt wurden. Mit der Verbreitung des privaten Telefonschlusses wurde die Telefonzelle keineswegs überflüssig: sie diente dem Telefoniebedarf "von unterwegs". Und da man nun fast alle Haushalte erreichen konnte, stieg der Gebrauchswert der Telefonzellen. Dies galt besonders für die Personengruppen, für die ein eigener Telefonanschluss unüblich war. Einer solchen Personengruppe, nämlich den Bewohnern des "Studentendorfes" in Göttingen diente die oben abgebildete Telefonzelle. An diesem Standort befanden sich lange sogar zwei Telefonzellen, eine dritte nur rund 100 m weiter. Zu Zeiten des "Mondscheintarifes" (ab 22:00 Uhr waren Ferngespräche gegenüber dem teuren Normaltarif deutlich günstiger) gab es durchaus Warteschlangen an den Telefonzellen. Die oben dokumentierten Features der Telefonkarte (diese Prepaid-Karte ersparte die Vorratshaltung an Münzen und umging das passende Münzeinwerfen) und die Möglichkeit zu internationalen Telefonaten erhöhten noch einmal die Attraktivität der Telefonzellen, ehe sie letztlich der flächendeckenden Verbreitung der Mobiltelefonie weirtgehend zum Opfer fielen. Die Wikipedia nennt 130.000 Telefonzellen für 1984, 110.000 im Jahre 2007, rund 90.000 für 2009 und für 2013 noch 48.000. Zahlen für 2016 via Heise-ticker
 
Für diese Serie wären Bilder von zwei Telefonzellen am Standort und von einer abendlichen "Mondscheintarif"-Schlange hilfreich gewesen, waren aber bei mir nicht verfügbar.
 
Für eine sozialdokumentarische Photographie zum Thema "Telefonie und Gesellschaft" gibt es noch weitere interessante Motive: Bilder von Telefonzellen zu verschiedenen Zeiten, aber so aufgenommen, dass der räumliche Kontext sichtbar wird; Ansammlungen von Telefonzellen oder offenen Sprechstellen; die Telefonbuchsammlungen, mit denen größere Postämter aufwarten konnten; Vandalismus an Telefonzellen.
 
Ein besonderes Thema wäre "Fasse dich kurz!", an dem die nicht-warenförmige Seite eines nicht-privaten Zugangs zum Telefonnetz erläutert werden könnte.
 
Noch zu behandelnde Fragen: Länge der Serie? Was kann man rekonstruieren ( = Kehrseite davon, dass man Entwicklungen oft erst im Resultat erkennt)? Stellenwert inszenierter Bilder? Text und Bild. Das Vierfelderschema: SodokuPho versus Kunst und Kontextualisierung versus Dekontextualisierung
 
Zusammenfassung: Der hier vorgestellte Typ sozialdokumentarischer Photographie arbeitet mit einer sachlichen und einer zeitlichen Selektion; durch die Reihung der Einzelbilder wird eine längere Entwicklung komprimiert und so sichtbar. Wenn der Betrachter die Nutzungsweisen der abgebildeten Gegenstände kennt, kann er denn dahinterliegenden gesellschaftlichen Prozeß erkennen, im Beispiel die Veränderung der Telefonie. (Andere Aspekte wie etwa die Arbeit zur Erstellung dieser Art von Telekommunikationsdienstleistung werden durch Serien dieser Art nicht erfaßt - das ist der Preis der hier vorgenommenen bestimmten Selektion). - Da die Motive öffentlich zugänglich sind und Personen nicht zwingend zum Motiv gehören, bleibt das Verhältnis des Photographen zum Gegenstand distanziert. Ist nicht ganz so banal wie es sich zunächst liest: man denke nur an die andere Situation des Photographen bei einer Demonstration, die ja nicht nur als Transparenten besteht. - Der Aspekt ist später vergleichend aufzunehmen. Stand: 12.1.2016
 
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